Garnison  Köln

Die Geschichte der Wehrmacht in Köln

Zeitzeugen

Zeitzeugen stellen in der historischen Forschung eine besondere, unschätzbar wichtige Quelle dar, sind Sie doch unverfälscht, allerdings auch stets subjektiv. Trotzdem spiegeln Sie den damaligen Zeitgeist und Geschehnisse wieder.  Aus diesem Grund sollen unkommentierte Darstellungen von Zeitzeugen diese Rubrik aus machen. 

An dieser Stelle möchte ich mich zunächst ganz herzlich bei Herrn Lambert Schuster bedanken, der mir die Tagebuchaufzeichnungen seines Vaters völlig uneigennützig zur Verfügung gestellt hat.

Aus dem Tagebuch von Vater Hubert Schuster

Über mich

Ich wurde geboren am 12. April 1910 zu Münster i / Westfalen, jenem grünen Kern eines grünen Landes auf roter Erde. Für eine eingehende Würdigung meiner Eltern und Geschwister ist hier in diesen kurzen Aufzeichnungen nicht der Raum.

Das wichtigste Ereignis meiner frühen Kindheit war wohl meine Krankheit, die mich mit dreieinhalb Jahren überfiel und an deren Folgen ich heute noch leide und immer leiden werde. Mit sechs Jahren kam ich in die Volksschule, die ich nach meiner Erstkommunion im Jahre 1920 verliess, um zur höheren Schule – dem Städtischen Gymnasium und Realgymnasium – zu wechseln. Das Realgymnasium absolvierte ich mit zum Teil ausgezeichneten zum Teil befriedigenden Leistungen bis zur Obersekundareife, die ich nach sechsjährigem Gymnasialbesuch zu Ostern 1926 erreichte.

In diese Zeit fiel der Tod meiner Mutter ( + 2. 1. 23 ) und die lange Krankheit meines Vaters, der sich in den Jahren 1923 und 1924 zwei schweren Operationen unterziehen musste, die er aber dank einer guten Konstitution überstand.

Wo mag meine Mutter jetzt sein? Ich will nicht an das denken, weshalb ich als Kind beim Gedanken an den Tod so traurig war und nicht einschlafen konnte. Damals hatte sie mir versprochen, dem Christkind zu schreiben, dass es uns nicht sterben liesse. Mich hatte das sehr getröstet, und doch ist sie jetzt schon 18 ½ Jahre an jenem dunklen Ort, vor dem ich damals als Kind ein solches Grauen empfand. Es wäre Unvernunft, dem Christkind heute einen Vorwurf zu machen, dass es meine Mutter doch hat sterben lassen. Das Naturgesetz des Todes ist unerbittlich, aber gerecht und einzig möglich.

Aber an welchem Ort befindet sich das, was an meiner Mutter unvergänglich ist?

Dunkle Schleier verbergen das Jenseits unseren wissensdurstigen Augen, aber es bleibt der Glaube, der unerschütterlich sein muss, dem die besten Geister der Menschheit aller Zeiten und Zonen gehuldigt haben: der Glaube an das Fortbestehen dessen, was unzerstörbar in uns ist, in einer ferneren Zeit, an dunklem, unbekanntem Ort.

Am 1. April 1926 begann meine Lehrzeit als kaufmännischer Lehrling bei den Hiltruper Röhrenwerken Fischer & Co., zu Hiltrup, einem kleinen 7 Kilometer vor Münster gelegenen Industrieort, wohin ich nun zehn Jahre lang täglich mit der Eisenbahn und später im Sommer mit dem Fahrrad hinausfuhr. Beinahe glaube ich, daß trotz aller Widerwärtigkeiten, die diese zehn Jahre in Fülle mit sich brachten, es sich hier doch um die schönste Zeit meines Lebens gehandelt hat, wobei ich allerdings das Zusammensein mit meiner Frau und meinen Kindern zunächst unberücksichtigt lassen muss.

8. 9. 1942

Wir stehen im vierten Jahre des zweiten Weltkrieges; die Lage ist unübersichtlicher denn je. Aber das Gefühl, daß wir nicht mehr gewinnen können, setzt sich allmählich immer mehr durch. Nur Stierköpfe, die es einsehen müssten aber nicht wollen, stemmen sich gegen die Erkenntnis und die bangen Zweifel ihres eigenen Gewissens. Und die Dummen natürlich!

Die Regierung hat schon durch Ausbau ihrer Polizei- und Justiz – Organisationen Vorsorge getroffen, daß Unruhen unter der Bevölkerung sofort unterdrückt werden können. Die Organe sind befugt, vom bestehenden Recht abzuweichen. Ein rechtloser Sklavenstaat, das ist aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation geworden.

24. 12. 1942

Nun ist trotz Krieg, Tod und Grauen draussen in der Welt und in der eigenen Heimat doch wieder Weihnachten geworden. Was hat uns das Jahr gebracht? Unendliches Leid und namenloses Elend. Und doch: gesund alles zu überstehen, ist für uns die Hauptsache. Alles andere ist Nebensache.

Hubert Schuster

So will ich froh sein. Mieke (Ehefrau von Hubert Schuster), den Kindern (Kinder von Hubert und Maria Schuster: Hans und Lambert) und mir geht es den Umständen entsprechend noch gut und wir haben das Jahr seit der vorigen Weihnacht glücklich überstanden. Doch wem haben wir das zu verdanken? So will ich denn mein Geheimnis, das ich jetzt ein Jahr still mit mir herumgetragen habe, diesem Buch, meinem Freunde, anvertrauen.

Als ich am ersten Weihnachtstag 1941 früh morgens um 6 Uhr in der Messe gewesen war und nach dem festlichen Kaffeetrinken am Vormittag froh und glücklich mit meinem Italienbuch, das ich von Onkel Heinrich zum Geschenk bekommen hatte, im Sessel vor dem Weihnachtsbaum sass, legte mir jemand hinter mir die Hand auf die linke Schulter. Ganz überrascht sah ich auf, denn ich war allein im Zimmer und hatte niemanden kommen hören. Ich sah mich nach beiden Seiten um und mein Erstaunen wuchs, denn niemand war da. Und doch war die Berührung der Hand auf meiner Schulter so deutlich gewesen, daß ich darauf hätte schwören mögen, es stände jemand hinter mir. Wie ich nun im nächsten Moment über die Sache nachdachte, durchzuckte mich ein Gedanke, der aber von aussen kam, als hätte ihn mir ein Genius ins Ohr geflüstert: „Es wird, was den Krieg angeht, mit meiner Familie und mir alles gutgehen.“

So sehr ich nun auch in der Folgezeit zuversichtlicher Hoffnung war, alles gut zu überstehen, wobei ich aber nie unvorsichtig oder leichtsinnig wurde, im Gegenteil bei jedem Fliegerangriff mich das bekannte Furchtgefühl überfiel, über eines blieb ich im Zweifel, ob ich die Prophezeiung als für den ganzen Krieg oder nur bis zur nächsten Weihnacht gelten lassen konnte. So sehr ich auch nachsann, der Genius kehrte nicht zurück.

Es ist das Jahr über toll hergegangen und wir waren oft dem Tode nahe. Wahllos wurden bei den Luftangriffen die Menschen zu Hunderten und Tausenden getötet, der Tod krachte um uns herum, eine Brandbombe fiel in unsere Wohnung, wir selbst blieben wohlbehalten an Leib und Seele, ein gütiges Geschick bewahrte uns - -

"droben überm Sternenzelt

muß ein lieber Vater wohnen...“

Das Jahr ist herum, wieder ist Weihnachten geworden, morgen früh gehe ich in die Ucht (Damals ging man am ersten Weihnachtstag um 5:00 Uhr in die heilige Messe, genannt Ucht..), genau wie im Jahr vorher. Ist die Zeit der Prophezeiung abgelaufen oder darf ich hoffen, dass sie noch weiter gilt?? Jetzt graut es mir doch vor dem kommenden Jahr. Was wäre der Mensch ohne Hoffnung und Vertrauen? - - - Sternenzelt - - lieber Vater wohnen - - - -

14. 2. 1943

Was brachte das Jahr 1942? Nichts Schönes, viel Trauriges.

Am 6. 1. 1942 starb im Reservelazarett zu Thorn Miekes´s ältester Bruder Hans Nonhoffs. Das Rätsel seines Todes ist noch nicht aufgeklärt. (Vermutung: Hans Nonhoff wurde wegen Fahnenflucht erschossen.)

Der Krieg währt immer noch. In der Nacht vom 30. zum 31. 5. 42 erging über Köln ein gewaltig grauenhafter Luftangriff, der in seinen zweieinhalb Stunden Dauer vierhundertsieben Tote forderte und durch den das Antlitz der schönen alten Stadt Köln, an der die Jahrhunderte gebaut haben, verheerend verstümmelt wurde. Nachdem die erste Welle feindlicher Flugzeuge zehntausende von Brandbomben aller Kaliber geworfen hatte, die Stadt in hellen Flammen stand und die Bevölkerung ohne Obdach vor ihren brennenden Häusern verweilte, warf die zweite Flugzeugwelle vorwiegend Sprengbomben. Ganze Stadtviertel und Strassenzüge brannten aus und wurden restlos vernichtet. Viele Kirchen - Gross-St. Martin, Aposteln, Gereon, Maria in der Kupfergasse, Maria im Kapitol, Minoriten - wurden ganz oder teilweise zerstört. Der Dom blieb unbeschädigt.

Mieke war mit beiden Kindern im Keller, ich stand geduckt unter der Haustür. Auf unserer Straße und rings in den Gärten brannten dutzende von Brandbomben. Ein schneller Rundgang durchs Haus bis zum Speicher ergab nichts.

Beim Umdrehen auf der Speichertreppe krachte es ohrenbetäubend; das Haus bebte langanhaltend. Ich vermutete auf eine Sprengbombe in nächster Umgebung und stürzte in den Keller.

Es verstrichen einige Minuten ängstlichen Abwartens. Dann ging ich noch einmal hinauf. Auf der Treppe sah ich schon unter dem Spalt der Korridortür her Feuerschein: im Schlafzimmer brannte es lichterloh.

14. 3. 1943 / 20. 3. 1943

Es ist schwer zu beschreiben: diese Gefühle und Gedanken, die jetzt in ein oder zwei Sekunden mich durchfuhren. Ich stand in der Schlafzimmertüre, schweratmend vom hastigen Hinaufspringen der Treppe. Schwer legte sich mir der dicke Schwefelqualm auf die Lunge. Die Schmalseite des Kleiderschrankes, die Tapete an der Wand, der Fussboden davor und darauf der Teppich mit Stühlen, Kissen, Kleidern, Mänteln und Anzügen: ein einziges rotes, hell-flackerndes Feuer. In den Betten lagen Funken. Hastig, ohne es recht zu wissen, schlug ich die Oberbetten zurück, weg von den gefährlichen Funken. Es durchzuckte mich der Gedanke, daß alles verloren sei, gejagt von dem weiteren Gedanken, zu retten, was noch gerettet werden konnte. Ich stürzte zwei, drei Schritte zurück. „Meine Bücher“, durchzuckte es mich.

Doch dann lief ich zur Treppe – es war wohl mehr Automatik, weniger Überlegung – nahm den Wassereimer und ging ganz nah bis auf zwei Meter an die Lohe heran. „Jetzt oder nie“, blitzte der Gedanke, und ich wurde ganz ruhig. Weit holte ich aus. „Gott, mein Gott“, dachte ich und dann schleuderte ich, so kräftig ich es vermochte, das Wasser in den Brand. - - Zischen, Sprühen, Spritzen, weisser Qualm, die Flamme fiel von oben herunter zusammen, ich verspürte Funken und Russflocken im Gesicht, auf den Zähnen; die Arme vor dem Gesicht torkelte ich rückwärts aus dem Zimmer.

War ein Wunder geschehen? Die grosse Flamme war verschwunden, nur hier und da glommen noch Schrank und Tapete, doch auf dem Fussboden zischte von neuem hell und gefährlich mit dickem Schwefelrauch die weisse Schweissglut der Brandbombe.

Sekunden waren nur vergangen, eben betrat der untere Nachbar die Wohnung und stürzte kleine Berge von Sand auf die Schweissflamme, diese so erstickend. Ich lief nach neuem Sand und Wasser, glimmende Kleidungsstücke wurden aus dem Fenster geworfen, dieses selbst weit geöffnet des Qualms wegen. Dann ein kurzer Sprung in den Keller, um Mieke Bescheid zu sagen (Hans sass mit grossen Augen, aber nicht sehr ängstlich aufrecht auf seiner Bettpritsche), und von neuem ging es mit der Feuerspritze an das Scheusal der Brandbombe, um sie, die unter dem Sand weiterglomm, ganz unschädlich zu machen. Dies gelang schnell, und wir sprangen wieder in den Keller.

Es kam die zweite Welle des Angriffs, Sprengbomben; währte sie ein oder zwei Stunden? Wer kann es sagen? Wir blieben verschont.

Ein trüber Morgen zog herauf, der Morgen des 31. Mai 1942. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

Drüben brannte nieder, was Jahrhunderte gebaut hatten, es brannte das grosse, heilige Köln. Der Dom blieb unbeschädigt.

21. 3. 1943

Noch kamen das Jahr über viele Alarme, Tag und Nacht. Unheimlich war das Dröhnen der Motoren der tief fliegenden Bomber, doch Köln war zerstört und Köln blieb verschont.

Nur im Oktober 1942 kam noch einmal ein Angriff auf die Orte zwischen Köln und Bonn. Eine Luftmine fiel in einiger Entfernung, wobei Fensterscheiben zersprangen und Dachziegel herabfielen. Ein englischer Flieger beschoss an einem anderen mal aus seinem Maschinengewehr unser Haus. Das aufgefundene Geschoss ist Erinnerung.

14. 5. 1943

In der vergangenen Nacht hatten wir einen stärkeren Alarm. Es wurde lebhaft geschossen, doch scheinen keine nennenswerten Bombenabwürfe erfolgt zu sein. Lediglich in Richtung Porz war ein Grossbrand zu sehen. Ob die Engländer nur ausprobieren wollten, wie stark zur Zeit die Flakabwehr über Köln ist?

Gestern habe ich im Garten sechs Tomatenpflänzchen gesetzt. Möhren, Mangold und Pflücksalat sind jetzt aufgegangen. Zwiebeln stehen bereits sehr gut. Rot- und Weisskohlpflänzchen kamen Anfang dieser Woche in die Erde. Der Kopfsalat entwickelt sich gut. Lediglich Strauchbohnen sind noch nicht aufgegangen. Es fehlen mir noch Kohlrabi und vielleicht etwas rote Beete. Auch ein paar Geranien habe ich gepflanzt, um auch Blumen zu haben.

10. 7. 1943

In der Nacht vom 3./4. 7. 43 wurde unser Haus durch mehrere Brandbomben total vernichtet. Mieke und ich und die Kinder verloren hierbei unsere gesamte Habe und konnten nur unser nacktes Leben retten.

Anmerkung:

Die Familie hatte jetzt keine Bleibe. So setzen sich die Eheleute mit den Kindern auf zwei Fahrräder und radelten nach Unkel am Rhein (50 km südlich von Köln). Dort wohnten Verwandte: die Schwester Anni und ein Onkel Heinrich (kath. Geistlicher in Ruhestand). Gier fand die Familie ersten Unterschlupf. Später musste sich die Familie während des weiteren Verlaufs des Krieges trennen. Mutter mit Sohn Lambert kamen in Beckum unter und Vater mit Sohn Hans in Unkel.

Hubert Schuster musste täglich zur Arbeit mit der Siebengebirgsplan und der Rheinuferbahn zwischen Unkel und Sürth pendeln.

14. 7. 1943

Aus einem Brief an Anne (Schwester mit Ehemann von Mieke, wohnhaft in Beckum in Westfalen) und Hermann:

„........ Mieke hat gedacht, ob sie mit Lambertchen, der jetzt kein eigenes Bettchen mehr hat und jeden Abend aus dem grossen Bett herausfällt, zuerst einmal zu Euch kommen kann.“

Es ist alles so furchtbar. Mieke gibt sich wirklich grosse Mühe mit dem Einkauf und war doch gestern Abend nahezu am Verzweifeln, als sie von Bonn kam und kaum das Allernötigste erhalten hatte. Die Kinder haben gar keine Spielsachen mehr und Lambertchen will immer mit Bauklötzchen bauen.

In der Schreckensnacht vom 3. zum 4. Juli war es speziell auf Rodenkirchen und einige andere Vororte wie Marienburg, Kalk etc. abgesehen. Die Engländer sind genau nach der Karte geflogen und es gibt tatsächlich kein heiles Haus mehr in Rodenkirchen. Etwa fünfzig Prozent können aber in mühseliger Arbeit repariert werden. Der Rest besteht aus Trümmerhaufen und verkohlten, ausgebrannten Ruinen. Der Alarm kam um ½ 1 Uhr. Wir machten uns wie üblich fertig und warteten. Ich stand am Fenster und beobachtete die Verneblung durch die Nebeltrupps. Gegen 1 Uhr setzte dann ganz überraschend der Angriff ein. Wir hatten gerade Mühe und Not, um in den Keller zu kommen, und waren kaum unten, als bereits die erste Mine fiel, die sofort die Fenster und Türen zum grössten Teil herausriss. Und nun setzte eine Bombardierung ein, wie sie keiner noch erlebt hatte. In Stalingrad kann es nicht schlimmer gewesen sein. Es war ein einziges Heulen, Zischen, Krachen, Bersten, Knallen, Zwitschern. Der Kalk fiel von den Wänden und Decken, der Staub wirbelte durch die Kellerräume, sodaß wir uns alle nasse Tücher vor Mund und Nase halten mussten.

Das Haus ächzte und zitterte und bebte, und bei jeder Mine und schweren Bombe schwankte es zentimeterweise hin und her. Glassplitter wirbelten herum, alles was nicht niet- und nagelfest war, flog umher. Jedesmal, wenn eine Mine heranheulte, warf ich mich auf die Erde und musste immer noch mit einem Bein die Tür zur Waschküche zuhalten, die trotzdem bei jeder Bombe und Mine wieder fortgeschleudert wurde. Die Hölle war los, es war ein Hexensabbath. Die Flak kam garnicht mehr durch (am anderen Morgen hörten wir, daß selbst die Flaksoldaten zu nichts anderem mehr in der Lage waren, als auf der Erde zu liegen und Deckung zu suchen.)

Plötzlich kam der Ruf: Es brennt bei uns! Ich habe gesagt, man solle doch brennen lassen, und auch die anderen wollten nicht heraus. Ich bin gewiss kein Angsthase, aber ich getraute mich in diesem Bombenregen nicht heraufzugehen. Schliesslich sind dann doch zwei Mann nach oben gesprungen und kamen schon sehr schnell wieder mit dem Ruf: es ist gelöscht. Die Bombe hätte in unseren Betten gelegen.

Aber wenige Minuten später brannte es schon wieder. Jetzt bin ich mit nach oben gesprungen, aber es war zu spät. Stickiger, schwarz – gelber Qualm erfüllte die ganze Wohnung, ob mit, ob ohne Gasmaske, man konnte nicht mehr hinein. Zum Glück liess zur selben Zeit der Angriff nach, sodass wir wenigstens die Kinder herausbringen konnten. Rundum ein grausig-schönes Schauspiel, halb Rodenkirchen brannte. Wir brachten die Kinder in ein Haus gegenüber, das noch stand, aber natürlich weder Türen, Fenster noch ein Dach mehr hatte.

Dann bin ich nochmal nach oben gesprungen. Der Qualm erfüllte die ganze Wohnung und im Schlafzimmer loderte die Hölle, sodass einem die Haare vom Kopf heruntergesengt wurden. Einen halben Meter über dem Erdboden war noch Luft, und so bin ich auf dem Bauch in die Wohnung gekrochen und habe vom Flur noch einen Korb mit Wäsche retten können. Das war alles. Schon fielen die Dachbalken und Dachziegel herunter.

Die beiden anderen Hausbewohner haben mit Hilfe einiger Nachbarn fast ihre gesamte Wohnungseinrichtung noch herausbringen können. Wir konnten nur noch retten, was wir im Keller hatten.

Was soll ich noch weiter von dieser Nacht berichten? Die Kinder schliefen nachher sanft und fest im fremden Luftschutzkeller und wir anderen sassen auf dem bischen gerettetem Hab und Gut und starrten grau und elend in das lodernde Haus, über dem matt und ebenso grau und elend wie wir waren ein grauer, elender Morgen heraufzog.

Gegen Mittag haben wir dann unsere Fahrräder genommen und sind dreckig und speckig, wie wir waren, mit den Kindern losgefahren, um Anschluss an die Rheinuferbahn zu finden, die irgendwo in weiter Ferne stehen musste. Gegen Abend waren wir in Unkel und haben dann des Nachts trotz aller überstandenen Aufregung geschlafen wie Mehlsäcke. - - -

Und damit mag sich der Schleier senken über diese bald fünfjährigen Aufzeichnungen und Selbstbetrachtungen.

3. 1. 1944 - Montag

An der Schwelle eines neuen Jahres will ich auch diesmal einen kurzen Bericht geben. Das Jahr 1943 wird überschattet von dem schrecklichen Unglück, das Mieke und mich betroffen hat: wir verloren durch Fliegerangriff unsere gesamte Habe. Ich schrieb darüber an früherer Stelle dieser Blätter.

Dass wir kurz vorher noch eine schöne Sommerreise nach Binz auf Rügen machten und ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal die See, Mieke zum ersten Mal die Ostsee sah, wird durch dieses schreckliche Ereignis ganz überdeckt.

Das nach aussen hin bedeutendste Merkmal dieser Jahreswende ist der unentwegt weitertobende Krieg, der jetzt viereinhalb Jahre währt. Italien ist aus dem Krieg ausgeschieden. Unsere jahrelange bombastische Propaganda – Phrasen bezüglich Italiens waren wieder einmal Phrasen Die Engländer und Amerikaner stehen kurz vor Rom. Die Russen rennen weiter an und stehen bereits an der ehemaligen russisch – polnischen Grenze. Unsere blühendsten Städte liegen in Schutt und Asche.

Das ist das Fazit von 1943!

24. 1. 1944 - Montag

Ich wurde um ¼ nach 10 in Bonn vom Alarm überrascht und bin nahezu drei Stunden lang im Bunker bezw. Im öffentlichen Luftschutzraum gewesen. Erst mittags um 2 Uhr war Entwarnung.

1. 2. 1944 - Dienstag

Der erste Monat des neuen Jahres ist glücklich herumgegangen. Er war von ausserordentlich intensiven Luftangriffen besonders auf Berlin und Frankfurt am Main, ferner auf Mannheim, Ludwigshafen, Braunschweig und Magdeburg erfüllt. Ich habe zweimal an Paul in Berlin geschrieben, bin aber bislang ohne Antwort von ihm.

10. 2. 1944 - Donnerstag

Am 5., 6., 7. Und 8. Februar war ich mit Hans einmal wieder zu einem – ach – viel zu kurzen Besuch bei Mieke und Bertchen (Lambert) in Beckum. Mir kam es beim Abschied beinahe vor, als sei es das letzte Mal. Wir gehen der schwersten Periode des Krieges entgegen, der bevorstehenden Invasion. A. H. (Adolf Hitler) hat am 30. Januar sehr kleinlaut gesprochen. Die grossmäuligen Siegesfanfaren sind verstummt, dafür hat er beinahe angstschlotternd gesagt: Es wird nur einen Sieger geben, entweder Deutschland oder Sowjetrussland.

Wie sagte doch Goethe?

„- - die ich rief die Geister“ - -

1. 3. 1944 – Mittwoch

Es schneit! Ich starre aus dem Fenster und sehe in dem wirbelnden Flockentanz plötzlich ein liebliches Bild.

Es war im Jahre 1941, als die englischen Luftangriffe langsam an Heftigkeit zunahmen. Unser kleiner Hans war damals zwei Jahre alt und süss und tollpatschig wie nur Kinder in diesem Alter es sind.

Sohn Hans

Da Mieke gerade auf Lambertchen wartete, und es nur noch wenige Monate bis zur Niederkunft waren, so beschlossen wir, dass sie mit Hans für die letzte Zeit des Wartens nach Unkel ziehen sollte. Ich musste in Rodenkirchen bleiben, doch fuhr ich jeden Sonntag hinüber.

Es war zu der Zeit, als die roten Kirschen am Baum hingen, und ständig stand Hans unter den dichten Zweigen, hatte die Finger im Mund und schaute lüstern nach oben. Doch war er noch so klein, dass er, trotzdem er sich auf die Zehen stellte, und sich streckte, auch die niedrigsten Zweige nicht erreichen konnte.

Aber plötzlich kam er gerannt; eine Idee hatte ihn überfallen. Er fasste Mieke bei der Hand, zog sie mit sich und zeigte plump zum Kischbaum: „Mami, komm Kirschen!“

Und mit dem trippelnden Hans an der Hand ging Mieke vor dem Fenster vorbei, hinter dem ich sass. Ich sah ihr duftiges, flatterndes Sommerkleid, aus dem die schlanken Beine in seidenen Strümpfen hervorschauten. Ich sah ihren durch die Schwere der Fruchtbarkeit festen Gang und den zappelnden Hans an ihrer Seite und das Bild zog vorbei wie in Sommergärten -

"--- die Küsse einer schönen Frau

rings die Rosen zum Blühen brachten.“

Die Schneeflocken tanzten dichter und deckten alles mit einem weissen Kissen zu.

7. 3. 1944 - Dienstag

Der Nervenkrieg nimmt seinen Fortgang, das Gemunkel will nicht verstummen. Man flüstert: wir müssen zwei Tage und zwei Nächte ununterbrochen im Keller sitzen; man raunt: wir werden hundert Stunden im Keller sitzen müssen. Astronomische Zahlen werden genannt: es stehen fünfzigtausend englisch – amerikanische Flugzeuge zum Angriff auf Deutschland bereit. Oder: die Invasionsarmee der Engländer und Amerikaner beläuft sich auf fünf Millionen Mann.

Tatsache ist, dass die Russen noch immer weiter vordringen und die feindlichen Flugzeuge unsere Städte verheeren ärger als je zuvor.

„Überstehen ist alles“, sagte Rilke.

13. 3. 1944 – Montag

Ich war heute einmal wieder zur Musterung. Das Ergebnis ist immer dasselbe: arbeitsverwendungsfähig Ersatz Reserve II. Ich musste nun diese Untersuchung zum sechsten Mal über mich ergehen lassen.

Die Musterung war in Brühl. Es war ein sehr stürmischer Tag. Der Wind peitschte mir kleine Eiskörner ins Gesicht. Ich ging über die kahlen Parkwege und umfasste mit einem kurzen Blick zum zweiten mal das schöne Rokoko - Schloss, das sich die rheinischen Kurfürsten dort errichten liessen. Zum ersten mal sah ich das Brühler Schloss etwa 1940, als ich an einem schönen Sommerabend mit Mieke dorthin radgefahren war. Damals fanden wir es beide recht klein und nüchtern und garnicht schön. Wir waren durch schönere Bauten verwöhnt.

Diesmal dagegen gefiel mir das Schloss gut, ein vornehmer, schöner Sandsteinbau. Man hat eben zuviel Schönheit in Trümmern gesehen und ist dankbar für das verbliebene Wenige. Man erkennt, dass auch die weniger kostbaren Perlen immer noch kostbar genug sind, um sich an ihrem blossen Anblick zu erfreuen.

15. 3. 1944 – Mittwoch

In einigen Tagen will ich wieder nach Beckum fahren, um meinen Anzug abzuholen. Den Bezugsschein (Waren und Nahrungsmittel erhielt die Bevölkerung auf Bezugsscheine, welche von den Behörden ausgestellt wurden.) hierfür bekam ich im Juli 1943, und jetzt nach ¾ Jahr erst ist die Arbeit fertig.

So ist es mit allem. Es hat ein halbes Jahr gedauert, ehe ich einen Hut bekommen konnte. Dieselbe Zeit war notwendig, um ein Paar Pantoffeln zu erhalten. Aber einen kleinen Fang habe ich doch getan: ich habe für Mieke einen neuen Füllfederhalter kaufen können. Am Sonntag bringe ich ihn ihr mit.

Wenn ich hinreise, muss ich wieder die Fahrt durch die zerstörten Städte machen Es ist eine Strecke des Grauens und des Elends Nachmittags: Mit Grauen denke ich immer noch manchmal an die Schreckensnacht zurück. Ich möchte so etwas nicht nochmal erleben und muss doch immer mit einer Wiederholung rechnen. Wenn es nur Mieke und den Kindern erspart bliebe.

22. 3. 1944 - Mittwoch

Samstag und Sonntag war ich bei Mieke und Lambertchen.

Es war die übliche Reise über Wuppertal, dessen tausende von ausgebrannten Häusern wie grinsende Totenschädel aussahen.

Sohn Lambert 1

In Hamm besuchte ich die altdeutsche Bierstube „An der Quelle“, wo ich von der Hockey Elf vom S.C. Münster 08 1935 einen unvergesslich schönen Abend verbracht habe. Das feine, geschnitzte Holzgitter war noch vorhanden, mit dem eine etwas erhöhte Estrade von dem unteren Raum abgetrennt war und von wo wir mit unseren Bierkrügen schwenkend laut „Prost Unterhaus“ riefen, worauf die unten sitzenden Zechbrüder und –brüderinnen „Prost Oberhaus“ antworteten. Die Stimmung stieg, bis dass dem Wirt das Singen zu viel wurde und er uns hinauswarf.

In Beckum war es schön wie immer. Ich war einen Tag und eine Nacht bei Mieke. Lambertchen war nett und ulkig.

Ich musste Montag früh um ½ 3 Uhr wieder fort und bekam in Hamm den Berliner Zug nach Köln um ¼ vor 5, sodass ich rechtzeitig im Geschäft war.

23. 3. 1944 - Donnerstag

Nachdem Finnland schon seit Wochen in Waffenstillstandsverhandlungen mit Russland steht, kriselt es jetzt in Ungarn, sodass gestern deutsche Truppen Ungarn besetzt und gleichzeitig einen Regierungswechsel herbeigeführt haben. Italien, Finnland, Ungarn: es kracht überall im Gebälk, und trotzdem gebärden sich die dummen Deutschen so, als ob morgen der Sieg da wäre. Während sich die Völker durch Waffenstillstandsabschluss noch einen Schein von Selbständigkeit erhalten können, zwingen wir sie zum Weiterkämpfen, wodurch eine vollständige Besetzung dieser Länder durch russische Truppen unausbleiblich wird.

29. 3. 1944 – Mittwoch

Die Tage schleichen dahin. Man wartet darauf, dass etwas geschieht, doch es geschieht nichts. Quälendes, dumpfes Warten, jetzt seit viereinhalb Jahren! Wie lange noch?

Draussen flöten wie schon vor zwölf Jahren an den frühen Frühlingsabenden, durch die ich mit Mieke schritt, die Amseln und so werden sie flöten, solange die Zeit dauert.

Denn es ist immer noch Krieg und aller Frieden nur ein Schein. Tag und Nacht gellen die Alarmsirenen und warnen vor drohender Luftgefahr. Dann hasten die Leute in die Keller, dann bersten die Granaten der Flak, dann krachen die Bomben. Menschen – Frauen und Kinder – müssen sterben, werden in Stücke gerissen, verbrennen. Und oben am Himmel ziehen die so friedlich aussehenden, weissen Kondensstreifen der feindlichen Flieger und die lustigen Wattebäuschen der Schrapnells.

21. 4. 1944 - Freitag

In der letzten Nacht war wieder ein schwerer Terrorangriff auf Köln. Noch weiss man nichts Näheres, aber die schwarze Brandwolke, deren Basis allein eine Ausdehnung von Kilometern hat, zieht träge nach Südosten und verfinstert die ganze Gegend. Obwohl ein an sich klarer Tag heute ist, ist die Sonne nur als dunkelroter Feuerball zu sehen. Russ, Staub und verbrannte Papierfetzen fliegen durch die Luft; es sind die bekannten Erscheinungen, die man nun schon von so vielen Angriffen her kennt.

6. 5. 1944 – Mittwoch

In der vergangenen Nacht wie häufig: Alarm. Diesmal fiel in einiger Entfernung eine Bombe, durch die meine Zimmertür und ein Speicherfenster aufsprangen. Das Haus war natürlich in grässlicher Aufregung.

6. 6. 1944 – Dienstag

In der vergangenen Nacht hat der Angriff der Engländer und Amerikaner auf die französische Kanalküste begonnen. Anscheinend befindet sich der gesamte Küstenstreifen zwischen Le Havre und Cherbourg bereits im Besitz der Angreifer.

17. 6. 1944 – Samstag

Es gibt viele Leute, die seit gestern buchstäblich die reinsten Indianertänze vor Freude darüber aufführen, dass die seit langem angekündigte Bombardierung Englands mit neuartigen Sprengkörpern grässlichster Wirkung eingesetzt hat. Sie meinen, dass nun der Krieg mit England in zwei oder drei Wochen beendet sei.

Im übrigen weiss man noch nichts über die neuen Mordmittel (V1-Flugbomben) – anders kann ich es nicht bezeichnen – und muss die Entwicklung der nächsten Zukunft abwarten. Welche Erwartungen hat man zum Beispiel auf den U – Boot Krieg gesetzt und wie ist man dabei hereingefallen! Das Gleiche lässt sich über den bisherigen Luftkrieg, ja, eigentlich über den Krieg ganz allgemein sagen.

19. 7. 1944 –Mittwoch

Heute morgen kam ich durch Wesseling, das diese Nacht einen starken Angriff erlebte. Das Benzin – Werk in Wesseling – Süd ist zu einem grossen Teil vernichtet. Ein riesiger Komplex – es muss ein Tanklager mit Treibstoff sein - brannte. In anderen Betriebsteilen waren kleinere Brände. Die grossen Stahlgerüste und Oeltürme waren wie Streichhölzer geknickt und zusammengestürzt.

Die zum Werk gehörende Siedlung und die eigentliche Stadtmitte von Wesseling boten ein Bild des Jammers und des Elends. Auf zahlreiche Häuser waren Volltreffer niedergesaust, während die übrigen durch den Luftdruck buchstäblich zerfetzt waren. Rechts und links und auf der Strasse selbst war ein Bombenteppich gelegt, und die schweren Stahlschienen der Rheinuferbahn ragten verbogen himmelan, waren zum Teil mit den Schwellen aus dem Erdreich herausgerissen und auf den Kopf gebogen worden. Beim Weitergehen musste ich Berg und Tal durch die vielen Bombentrichter steigen und zerschnitt mir die Schuhe an den Glassplittern, mit denen die Strassen übersät waren. Eine lange Autokolonne – zehn Feuerlöschwagen der Feuerwehr Düsseldorf – sausten an mir vorbei zur Brandstätte.

Und in all diesem Wirrwarr die betroffenen Menschen. Sie sind noch ganz stumm und verdattert, können nur ohne Begreifen die Köpfe schütteln, und das Grauen, der noch nicht überwundene Schrecken sprechen aus den vor Müdigkeit grauen Gesichtern. In den Trümmern klettern sie umher, bergen noch einigen Hausrat, bringen hier eine durchlöcherte Steppdecke und da einen geschwärzten Spiegel heraus. Ein achtjähriges Mädchen schleppt schwer unter der Bürde seines kleinen Brüderchens, das es in ein einigermassen heiles Haus bringt, während ein Knirps das Milchfläschchen nebenher trägt.

Es war wieder Grossalarm und wir bekamen Beschuss, worauf ein Flüchten zu den sicheren Bunkern einsetzte. Ein Mann und eine Frau trugen in einem Waschkorb einen Säugling, die beiden älteren Jungen von vier und fünf Jahren trabten hinterher.

Ein Aufatmen, der Bunker war erreicht. Uebermüdet von den Strapazen der durchwachten Nacht sanken die Leute auf die harten Bänke. Manche Mütter hatten Last mit ihren Kindern, die vor Müdigkeit nicht sitzen und nicht liegen konnten und durch ständiges Herumwälzen die aufs höchste beanspruchten Nerven noch mehr anspannten. Qualvoll rannen die Minuten und rundeten sich zu Stunden, und über uns brummten schwere Kampfverbände dahin.

Erst nach zwei Stunden war es etwas ruhiger, sodass ich Wesseling verlassen konnte, um in Sürth aufs Neue in den Alarm zu kommen.

Waren die Menschen nach diesem Angriff diszipliniert, waren sie nicht diszipliniert? Oft mag schon eine solche Frage gestellt worden sein. Ich weiss es aus eigener Erfahrung: man hat in den ersten Stunden vielzusehr mit den primitivsten Dingen des täglichen Lebens zu tun, als dass man zur Besinnung käme. Wutausbrüche kommen häufig vor, ( aber nicht gegen die Engländer! ) doch sind dies nur Momente, wo die Nerven durchreissen. Die Meisten sind froh, dass sie noch leben.

Die eigentliche Reaktion kommt erst nach Wochen und Monaten, doch dann ist man bereits sklavisch verschüchtert und riskiert nichts mehr.

21. 8. 1944 – Montag

Es wird nur noch eine Frage von wenigen Tagen sein, so wird Paris von den Engländern und Franzosen erobert, nur noch wenige Wochen, so wird ganz Frankreich von ihnen besetzt sein.

Alle Gemüter beschäftigen sich mit der bangen Frage: was soll werden? Wenn doch nur erst der Krieg vorüber wäre! Es geht jetzt zwar mit Riesenschritten vorwärts, aber doch kann es noch ein halbes Jahr währen, ehe diese drückendste und vordringlichste Sorge von uns genommen ist.

Eines aber ist sicher: dass die Nazis ihren Krieg verlieren werden!

24. 8. 1944 – Donnerstag

Es heisst – gewiss stammt das Gerücht vom englischen Sender – Paris sei gefallen und Rumänien habe kapituliert. Man wird halt wieder abwarten müssen.

Inzwischen versüsst die Partei uns die Wartezeit mit den Legenden von den märchenhaften neuen Waffen, die kommen und in ihrer Wirkung grauenvoll sein würden.

Man wird auch hier halt wieder abwarten müssen. „V 1“ zieht also anscheinend nicht mehr.

27. 8. 1944 – Sonntag

Gestern abend – Samstag – bin ich mit einem grossen Bollerwagen nach Bruchhausen (Ort in der Nähe von Unkel) gefahren und habe dort einen Zentner Kartoffeln geholt. Hans sass stolz wie ein König auf dem Wägelchen, war zum Schluss aber blass und ermüdet.

Wir sollen jetzt alle zum Schanzen an die Grenze. Der Krieg nähert sich dem Lande. Ob denn nicht endlich die Vernunft siegt und ein Ende wird?

28. 8. 1944 – Montag

Der Krieg rückt immer näher und näher, und die wildesten Gerüchte schwirren umher. Jeder erwartet jetzt etwas, sei es auch nur eine Erklärung der Regierung, wie man zu verfahren gedenkt.

31. 8. 1944 – Donnerstag

Der Sommer scheint vorbei zu sein. Wir wollen hoffen, dass uns der Herbst noch ein paar schöne Tage beschert. Aber das ist Nebensache. Die Hauptsache bleibt der noch näher gekommene Krieg. Ihn zu überstehen, gilt mein ganzes Sinnen und Trachten.

Heute dauert der Wahnsinn fünf Jahre. Morgen beginnt das sechste Jahr des grauenvollen Völkermordens. Man schaudert, wenn man die Jahre zurückblickt, man schaudert erst recht, sieht man die wenigen Monate, die noch vor uns liegen.

4. 9. 1944 – Montag

Die Ereignisse überstürzen sich jetzt. Nach Italien und Rumänien ist jetzt auch Finnland von den Nazis abgefallen. In Bulgarien ist durch die Bildung einer neuen Linksregierung eine entscheidende Schwenkung vorbereitet.

Am gestrigen Sonntagmorgen kamen früh um sieben Uhr mit dem ersten Zuge die aus Unkel am vergangenen Dienstag zum Schanzen an die Grenze ausgerückten Gymnasiasten zurück. Sie waren verwildert und halb verhungert, hatten in den vier Tagen ihrer Schanzarbeit kein warmes Essen erhalten, waren von Tieffliegern beschossen worden, hatten nur Notquartiere und mussten angeblich bei Diedenhofen vor den deutschen Truppen, die in Auflösung zurückfluteten, arbeiten. Dann waren sie ausgerissen.

Man merkt überall den Wirrwarr und die Kopflosigkeit. Der Feind rückt näher, er soll die Linie Brüssel – Luxemburg – Diedenhofen erreicht haben. Die aufrechten Leute sind erbittert über die Nazis, die bei der völlig aussichtslosen Lage uns zwingen, weiter zu kämpfen und unser Blut für sie zu vergiessen, damit sie ihr verwirktes, armseliges Leben noch vierzehn Tage verlängern können.

Alles redet von flüchten müssen. Wir wollen, wenn man uns nicht zwingen sollte, in Unkel bleiben, werden nur nach Möglichkeit etwaigen Kämpfen, die sich hier abspielen sollten, ausweichen und uns für einige Tage in bergige Wälder zurückziehen. Die Ungewissheit über Mieke und Lambert bereitet mir Sorge. Für den Fall, dass wir fort müssten und unsere Habe allein und unbeaufsichtigt zurückbliebe, habe ich gestern den ganzen Sonntag Nachmittag dazu benutzt, im Hühnerstall ein tiefes Loch zu graben, in das wir eine solide Holztruhe mit Wäsche, Kleidung, Silber und dergleichen hineintun wollen.

In Bonn sind bei den rund zehn Alarmen des gestrigen Tages von einem Tiefflieger die Passanten auf der Rheinbrücke beschossen worden.

5. 9. 1944 – Dienstag

Auf allen Strassen, in allen Städten und Dörfern trifft man jetzt auf marschierende oder ruhende Kolonnen zu Fuss oder motorisiert. Die Soldaten sind feldmarschmässig ausgerüstet und tragen über ihrer Uniform oft noch eine Zeltplane, die in unregelmässigen Linien blass – gelb – grün – rot gemustert ist. Die Autos sind in den gleichen Schutzfarben gestrichen und darüberhinaus noch mit grünen Zweigen getarnt. Vereinzelt sieht man Eisenbahnzüge mit Geschützen, doch häufig auch seit Wochen schon die langen, langen Lazarettzüge mit dem Roten Kreuz.

An den Rheinbrücken, die wieder sehr scharf bewacht sind, stehen unter dem Befehl von Offizieren Kommandos mit Stahlhelm und Karabinern, die jedes Militärauto, das auf das rechte Rheinufer will, scharf kontrollieren. So scheint an dem Gerücht von versprengten Truppen weit hinter der Front doch etwas Wahres zu sein.

In einigen Personenkraftwagen des Militärs sah ich heute früh um sieben Uhr am Bonner Hauptbahnhof ein paar schlafende Soldaten, unter denen sich auch ein Mädchen befand. Am Ärmel trugen sie einen Streifen mit der Aufschrift „Kriegsberichterstatter“, während die Wagen an der Scheibe ein Schild „Freie Durchfahrt – Sonderauftrag“ hatten. Gestern wurde an der gleichen Stelle ein grosses Lastauto mit einer Anzahl Wehrmachthelferinnen samt ihrem dürftigen Gepäck abgeladen. Sie trugen alle das kleidsame grau – blaue Wehrmachtkostüm und schienen aus besseren Kreisen zu stammen, machten mir aber den Anschein, als seien sie deprimiert und von dem hastigen Rücktransport ein wenig zerzaust.

Im grossen und ganzen sind die Autos und auch die Soldaten noch „prima in Schuss“, doch handelt es sich gewiss um neue Stäbe, die hier ihre Tätigkeit aufnehmen, um den Aufbau einer neuen Widerstandslinie zu versuchen. Angeschlagene Frontverbände habe ich noch nicht gesehen.

6. 9. 1944 – Mittwoch

Immer noch das gleiche Bild. Truppentransporte über Truppentransporte. Ich habe mit den ersten Flüchtlingen von der Grenze gesprochen, die aus Malmedy kamen, das bereits ganz geräumt sein soll. Es waren zwei Frauen, ein altes Mütterchen und ein Junge von etwa zehn Jahren, die müde und abgespannt, auch ein wenig niedergeschlagen, aber keineswegs fassungslos waren. Das mag später noch kommen. Gestern noch vereinzelt, trifft man heute schon bald auf Schritt und Tritt diese Grüppchen an, denen man ihr Los sofort ansieht.

Wann werden wir drankommen?

8. 9. 1944 - Freitag

In diesen Tagen ist das Lambertchen drei Jahre geworden. Über ein Jahr bin ich von Mieke und ihm, ist Hans von seiner Mutter und seinem Brüderchen schon getrennt.

13. 9. 1944 – Mittwoch

Aachen musste von der Bevölkerung geräumt werden. Ich habe heute mit Flüchtlingen aus Aachen gesprochen. Die Alliierten stossen auf die Stadt vor. In den letzten Tagen furchtbare Terrorangriffe auf Münster, München, Mainz, Frankfurt, Stuttgart, Mannheim, Ludwigshafen, Wiesbaden usw. usw. Und die Nazis lassen den Wahnsinn kaltblütig immer weiter gehen. Es zeichnen sich einige Stossrichtungen ab, in denen die Alliierten anscheinend vorrücken wollen.

18. 9. 1944 – Montag

Der Kanonendonner von Stolberg ist bereits zu vernehmen, und bei Nacht sieht man das Mündungsfeuer der Geschütze von der Front. Und der Wahnsinn geht weiter.

21. 9. 1944 – Donnerstag

Die herbstlichen Blätter fallen zur Erde. – Mieke ist gekommen, um Hans fortzuholen!

Fünf Jahre und vier Monate bin ich Abend für Abend zu Hans gegangen, habe ihn zugedeckt, habe ihm die wirren Haare aus der Stirn gestrichen, habe ihm das verschwitzte Gesichtchen getrocknet und habe mich an seinem kindlichen, schlafseligen Schnaufen erfreut.

Und morgen fährt Mieke mit Hans fort.

Wie schwer ist mir der Abschied von allem gefallen, was ich besessen habe, was mir lieb und teuer gewesen ist. Als Mieke mit Lambertchen fuhr, blieb mir doch noch Hans.

27. 9. 1944 – Mittwoch

Gestern fielen einige Bomben auf Wesseling, wodurch auch der Verkehr der Rheinuferbahn wieder gestört war. ( Diese hat sich von einer Sonntags – Ausflugsbahn vor dem Kriege zu einem lebenswichtigen Verkehrsmittel entwickelt, ohne welches Köln und Bonn kaum noch denkbar wären.) Die beindicken Schienen waren wie Streichhölzer durchgebrochen und mannslange Stücke davon meterweit fortgeschleudert. Im Bombentrichter sammelte sich trübes Grundwasser.

Während ich deshalb gestern Abend zwei Stationen zu Fuss laufen musste, klappte heute Morgen der Verkehr bereits wieder, allerdings mit zweimaligem Umsteigen.

Es lag heute morgen etwas in der Luft. Viele spürten es. Und es kam auch wieder ein sehr schwerer Terrorangriff auf Köln, der erste Tagesangriff dieser Art. Man hört von Bombenteppichen und schweren Verwüstungen. Die Strassenbahnen verkehren nicht mehr.

Tote und Verletzte – Frauen und Kinder!

Eine deutsche Zeitung schrieb gestern: Wir leben im grössten Heldenzeitalter der Geschichte!!

2. 10. 1944 – Montag

Es ist zwölf Uhr und es war schon zweimal heute Vormittag Grossalarm. Eine Anzahl schwerer Kampfverbände brummte über uns hinweg, doch blieb der Kölner Raum verschont. Wie lange noch?

Seit acht Tagen zieht sich wieder eine Welle schwerster Terrorangriffe über den Westen des Reiches. Köln, Koblenz, Mainz, Münster, Hamm, Bielefeld, immer wieder das Rhein – Main – Gebiet, dann Mitteldeutschland mit Halle, Magdeburg, Dessau, Braunschweig.

Es ist schrecklich. Blut, Leichen, Verwüstung, Tränen. Schreckliches Elend, Trübsal, Trauer. Wir sind gehetzte Tiere, nein, Sklaven!

Nur gestern, bei dem ganzen Tag regnerischem, trüben Wetter war eine Ruhepause. Ich benutzte den Tag zum Studieren, und nachmittags gingen wir nach Bruchhausen, um bei einem Bauern um Kartoffeln und etwas Milch zu betteln.

Das Haus war kalt, denn wir haben keine Kohlen und können nicht heizen, sodass ich mich endlich entschloss, da alle anderen Bemühungen erfolglos geblieben sind, mit einer alten Reisetasche aus unserem noch erhaltenen Keller in Rodenkirchen pfundweise Briketts nach Unkel zu schleppen. Die erste Ladung habe ich jetzt bei mir, es mögen vierzig Pfund sein. Hier musste ich unterbrechen, denn es fielen wieder Bomben und wir jagten hinunter. Es ist eine furchtbare Zeit, könnten wir sie doch alle gesund überstehen!

3. 10. 1944 – Dienstag

Es war Alarm und ich ging zum Bunker, der etwa drei Minuten vom Verwaltungsgebäude entfernt ist und vor dem ich immer stehe, um bei akuter Gefahr hineinzugehen, im übrigen, um die Zeit abzuwarten. In unsere Nähe kam aber nichts, und langsam gehe ich zurück.

Kaum im Geschäft angekommen, fallen irgendwo ein paar Bomben, und als es – wieder zu spät – Hausalarm gibt, dröhnt über uns die Luft von schweren Motoren und die Flak (gemeint ist die deutsche Abwehrflak gegen die feindlichen Flieger) schiesst aus allen Rohren. Ich renne so schnell ich kann am Rhein entlang zum Bunker, sehe aber auf dem anderen Ufer drei seltsam schlanke von den Wolken bis zur Erde reichende Rauchsäulen in gerader Linie nebeneinander stehen: die Zielmarkierung! (Taktik der Briten bei Luftangriffen: erste Flieger setzen Zielmarkierungen zur Orientierung für den Bombenabwurf der nachfolgenden Flieger) Der Bunker ist noch hundert Meter entfernt, es bleibt aber keine Zeit mehr, denn schon hört man das unheimliche Rollen der die Luft durchschneidenden Bomben.

Zwischen hohen, breiten Ufermauern geht eine schmale Treppe zum Wasser hinunter. Sie bietet etwas Deckung gegen Luftdruck und umherwirbelnde Splitter. Etwa zehn Leute stehen schon dort, darunter ein paar Mädchen. Ich stürze hinunter, wir kauern uns alle gegen die Stufen, den Rücken nach oben, die Gesichter in die Mäntel und Kleider hineingepresst. Die Detonationen grollen und knattern darüber . Gottseidank, nicht wir! Man ist egoistisch geworden, es geht wieder einmal auf das Benzinwerk Wesseling – Süd.

Eine kurze Pause, wir springen auf und sausen fort; der bergende Bunker nimmt uns auf. Atemlos keuchen wir vor uns hin, als die zweite Bombenserie fällt.

Dann ist es vorüber, und wir steigen aus den Löchern. Drüben kriecht träge und zäh eine ungeheure Explosionswolke und der schwarze Qualm grosser Brände.

Wir schlendern wieder zur Verwaltung. Manchmal bleiben wir stehen, schauen nach drüben, sehen uns dann in die Gesichter und schütteln stumm unsere Köpfe.

„Was sind wir doch für arme Tiere“, sagt ein Arbeiter von der Werkstatt, der neben uns geht, und er hat allen aus der Seele gesprochen. Eine Frau seufzt: „Die armen, armen Menschen, die jetzt wieder unter den Trümmern liegen“. Ein kleines bleiches Mädchen

drückt ängstlich seine Puppe in den Arm und guckt unverwandt zur Grauenstätte hinüber.

Bei uns aber geht das Leben weiter. Der tägliche Kampf und Ärger mit der Kundschaft und dem nicht mehr funktionierenden Betrieb dünkt mich jetzt schal und kleinlich.

Jemand sagt, die Rheinuferbahn führe nicht, auch in Köln sei etwas gefallen. Wie komme ich heute Abend nach Hause?

Das ist jetzt meine nächste Sorge, falls kein neuer Alarm kommt.

6. 10. 1944 – Freitag

Wieder liegen zwei aufregende Tage hinter mir und diesmal hat es uns in Sürth getroffen.

Gestern morgen bekamen wir gegen elf Uhr Alarm. Ich ging zum Bunker und stellte mich unter, denn schwere Verbände flogen im Halbkreis über uns hin. Die Flak schoss mit Macht, sodass der ziemlich tief unter der Erde liegende Bunker unaufhörlich dröhnte. Der Angriff erfolgte dann nördlich Köln auf I.G. Farben in Leverkusen.

Diesmal dauerte es länger, denn es kamen immer neue Verbände, und so war es halb eins mittags, als endlich Entwarnung war. Ich war aber gerade wieder in der Firma und wollte just meinen Fuss auf die erste Treppe setzen, als schon wieder Grossalarm gegeben wurde. Resigniert kehrte ich um und ging nicht gerade übermässig schnell den Weg zum Bunker. Auf halben Wege aber setzte schon die Flak ein und diesmal gerade über mir. Ein jähes Angstgefühl fasste mich, ich hetzte an den Häusern entlang, stosse auf ein paar Arbeiter, die mit furchtsamen Gesichtern gleich mir dem Unterstand zueilen. Als wir auf den Stufen sind, die in die Erde führen, ertönen bereits die ersten schweren Detonationen. Wir stossen und drängen in den Bunker hinein, nehmen noch ein paar erschreckte, französische Arbeiter mit auf, zerren die beiden Stahltüren hinter uns zu. Dann kamen in Sekundenschnelle die furchtbaren Schläge näher. Unter dem heftigen Krachen erbebte der Bunker, das Licht fiel aus und die Frauen fingen an zu schreien. Einen verrückten Moment lang schien Panik zu entstehen, die in dem völlig finsteren Raum verhängnisvoll hätte werden können. Ich presste mir ein Taschentuch vor den Mund und duckte mich hin in Erwartung einer Bombe. Da erscholl neben mir eine wohltuend brüllende Männerstimme und donnerte: „Ruhe!“. Hierdurch ermannte auch ich mich, und wir brüllten nun die schreienden Frauen nieder. So kam alles schnell wieder zur Besinnung; mein Freund Gabel zündete zwei Kerzen an, wir blickten uns um. Es war bei uns nichts geschehen, der Bombenwurf hatte aufgehört.

Die Bunkertür öffnete sich, eine Frau keuchte zu uns hinein. Sie trug noch ihre Küchenschürze und hatte nichts mehr an sich raffen können als den Hausschlüssel. Man bestürmte sie von allen Seiten mit Fragen, wie es draussen aussähe. „Ist etwas bei mir passiert?“ – „Steht unser Haus noch?“ schwirrten die Fragen. Die Frau wusste nichts; draussen stände dichter Staub, sodass man nichts sehen könne. Die Bomben seien auf die Hauptstrasse gefallen.

Wir warteten noch etwas und gingen dann, da es ruhiger wurde, hinaus. Der Staub hatte sich verzogen, und unseren Augen bot sich das nach Bombenwürfen übliche Bild. Von unserem Bunker bis zur Fabrik - etwa dreihundert Meter – lagen zwölf Bomben, davon drei Blindgänger. Volltreffer, zerfetzte Häuser, grosse Krater auf Strassen und in Gärten, vor Schreck und Kummer weinende Frauen und Kinder, schimpfende Männer, die aber gleich den Besen und die Schaufel in die Hand nahmen und an das Aufräumen und das Bergen der Möbel schritten. Das ruhige Pfarrhaus hatte eine Bombe in den Garten bekommen, wodurch die Rückfront des Hauses demoliert war. Der gelehrte Pfarrer selbst – bescheiden und zurückhaltend wie immer – war durch Staub und Schmutz verschmutzt, während der junge Kaplan sich dreckig und speckig wie ein grosser Junge an den Aufräumungsarbeiten beteiligte.

Wir kamen zur Firma. Hier war schon alles abgesperrt, denn im Hauptgebäude, direkt vor dem Treppenaufgang, vor dem ich vor zwanzig Minuten noch gestanden hatte, lag ein Blindgänger. Der alte Prokurist, Herr Brunke, hatte auf der Treppe gestanden, als er fiel, hatte sich aber nichts zugezogen als durch umherwirbelnde Glassplitter eine Fingerverletzung. Ich machte einen Bogen um das Haus und traf dann vor der Fabrik auf die anderen Kollegen, die alle aufgeregt durcheinander schwirrten und schwatzten. Zum Glück war keiner zu Schaden gekommen, obwohl natürlich wieder kein Hausalarm gegeben worden war. Auch die Fabrik war abgesperrt, hier lagen ebenfalls Blindgänger. Ausserdem sah ich zwei gähnende Trichter und eine aufgerissene Gebäudeecke. Es war Mittagszeit, doch die Kantine hatte geschlossen; wahrscheinlich war das Essen voller Dreck und Glassplitter. Aus dem Verbandsraum kam uns Herr Brunke entgegen. Er war noch blass vor Schrecken und sah aus wie ein Müllkutscher. Seine linke Hand war verbunden. Wir sprachen ein paar Worte, und er versuchte schwach zu lächeln.

An Arbeiten war nicht zu denken, weil auch das Betreten des Hauses nicht möglich war. So verzogen wir uns nach und nach. Auch die Bahn war wieder getroffen, ich musste deshalb bis Wesseling –Süd zu Fuss gehen. Abends um acht Uhr war ich mit schmerzenden Füssen zu Haus.

Heute Morgen lag der Blindgänger noch und wir konnten gleich wieder umkehren. Nur für einen kurzen Moment bin ich über eine Nebentreppe nach oben gegangen und habe etwas aufgeräumt.

Dann bin ich zurückgefahren, kam aber nur bis Wesseling –Süd, denn dort war wieder Grossalarm. Alles flüchtete über die Felder aus der Nähe des Benzinwerkes fort, und auch ich bin im Trab bis zur nächsten Ortschaft gelaufen und habe mich dort notdürftig untergestellt, während es ein paar Mal schoss.

Nach einer Stunde etwa konnte ich ein Militärauto anhalten, das mich bis zur Fähre Unkelbach mitnahm. Vor uns waren Tiefflieger, und wir hörten den Beschuss der Bordwaffen. Immer waren wir bereit, uns aus dem Auto in den Strassengraben zu werfen. Doch es ging gut. Um drei Uhr holte mich der Fährmann herüber.

Den ganzen Nachmittag noch brummten die Amerikaner und noch vor einer halben Stunde – um acht Uhr abends – waren wir eine Zeitlang im Keller, denn ein englischer Verband flog unter heftigem Beschuss der Flak vorbei.

Was wird es morgen geben?

8. 10. 1944 – Sonntag

Ich bin zwei Tage nicht zum Eintragen gekommen und erlebe doch jeden Tag Dinge, die des Behaltens wert sind. Unsere Geschichtsbücher stehen voll von Krieg und seiner Verherrlichung, wohl niemand aber hat die Geschichte der unter dem Krieg leidenden Heimat jemals richtig geschrieben. Und dieses stille, unbekannte Heldentum von Nichtkämpfern, von Frauen und Kindern ist gewiss nicht das kleinere.

Ich war gestern unterwegs nach Sürth, kam aber nur bis Rhöndorf, wo der Zug stehen blieb, weil vor uns Tiefflieger waren. Ich stieg aus und entfernte mich etwas vom Zuge. Mitreisende, die gleichfalls die Abteile verlassen hatten, zeigten nach oben, wo in etwa 1500 Meter Höhe einige feindliche Maschinen flogen.

In diesem Moment kamen unversehens aus anderer Richtung einige feindliche Flugzeuge herabgeschossen.

Jiiiiih! Das Dröhnen der Motoren wurde fast übertönt durch das Pfeifen der sturzfliegenden Jäger und das Sausen und Bersten der Bomben. Mit Gedankenschnelle warfen wir uns alle flach auf die Erde, während um uns acht Bomben zum grössten Teil in den Rhein fielen, der dicht vorbeifloss. Zum Glück war keinem etwas geschehen. Ich sprang auf und rannte fort, weg, weg von der Bahn, weg aus der Ortschaft, zu den friedlichen Wäldern. Doch zwischen den Häusern hörte ich es wieder brausen und pfeifen: blitzschnell lag ich auf dem Bauch gegen eine Hauswand gedrückt. Es sauste vorbei, ich lief weiter, lief mehr als ich ging den steilen Weg zum Drachenfels hinauf und wurde dort erst ruhiger, als ich in halber Höhe in den Wald kam. Langsam beruhigte sich mein Atem, und der Friede des herrlichen, herbstlichen Waldes beruhigte auch meine Gedanken. Drei Stunden bin ich gewandert wie in alter Zeit. Ich dachte an Mieke, Hans und Lambert, mit denen ich zuletzt um Ostern diesen Weg gegangen war.

Wie schön war die Waldeinsamkeit! Nur einmal traf ich einen Herrn und eine Dame, zu denen ich mich für eine kurze Rast setzte und die ihr Leid um den Krieg und um ihren einzigen, gefallenen Sohn klagten und ihren Hass gegenüber dem Regime aus sich heraus stiessen. Kaum war ich aber nach Mittag wieder unten, als ich in dauernde Fliegerei kam, die ununterbrochen bis zum Abend anhielt und unter der ich langsam zu Fuss mich nach Unkel durchschlich, oft Bergung und Schutz in den Erdgräben auf den Feldern oder unter Bäumen suchend, um mich der Sicht und dem Angriff der Bordwaffen zu entziehen.

Welch eine Verblendung, zu glauben, gegen eine solche ungeheure Uebermacht des Materials standhalten oder gar gewinnen zu können!! Kein deutscher Jäger war zu sehen, keine Flak schoss. Jetzt schon sind die Amerikaner die unbestrittenen Herren hier. - -

Im Vergleich zu den letzten Tagen war der heutige Sonntag wieder ruhig, obschon dauernd Alarm war und ständig Flugzeuge vorbei kamen. Ich hatte Musse, zu studieren und zu denken, und ein starkes Heimweh nach Mieke und den Kindern. Wie soll alles enden und wie und wann kommen wir alle wieder zusammen?

9.10. 1944 - Montag

Ein Leben ohne Kinder ist kein Leben

15. 10. 1944 – Sonntag

Gestern Vormittag, am Samstag, dem 14. Oktober 1944, war einer der allerschwersten Terrorangriffe auf Köln, der zwei Stunden, von elf bis ein Uhr mittags gedauert hat. Auch in Sürth, Weiss und Godorf sind zahllose Spreng- und Brandbomben gefallen. Ungeheure Brände dehnten sich über den halben Horizont aus. Ich habe keine Worte mehr, um das Grauen zu schildern; es ist zu furchtbar. Ich muss mich damit begnügen, die Tatsache festzuhalten.

Die apokalyptischen Reiter rasen!

Ich habe gestern Nachmittag in Bonn gebeichtet, bin jedoch heute nicht zur Kommunion gekommen, da wieder zwei Stunden Alarm war und hunderte von Maschinen über das Siebengebirge hinwegzogen.

Man erzählte sich, es sei auch heute Morgen wieder Köln gewesen.

Meine Gedanken gelten heute am ganzen Tag Mieke, Hans und Lambert.

16. 10. 1944 – Montag

Ja, auch gestern Morgen war Köln wieder Angriffsziel von zwölfhundert Flugzeugen, wodurch das Grauen des Samstags noch überboten wurde. Es liegt wieder alles lahm. Bis zum Sonntag Abend waren zweihundertzweiundachtzig Todesopfer geborgen, deren Zahl sich aber noch wesentlich erhöhen wird.

In der Firma wurde nicht gearbeitet; es waren allein in Sürth dreihundertzweiundzwanzig Sprengbomben gefallen, zum Glück allerdings zum grossen Teil in die Gemarkungen. Eine Kollegin von mir, ein junges Mädchen, ist tot.

Man erzählt sich, dass nun auch Ungarn den entscheidenden Schritt getan habe und von uns abgefallen sei, Schweden die Beziehungen zu uns abgebrochen habe.

Und der Wahnsinn geht weiter.

In Sürth ist ein Schiff getroffen und gesunken, das Rüböl geladen hatte. Es sass auf Grund und ragte noch etwas aus dem Wasser heraus. Von nah und fern kam alles, was Beine oder Fahrräder hatte, mit Kannen, Eimern und Zinkwannen gelaufen, denn die Schiffer verteilten jetzt das Öl gratis in grossen Mengen. Dadurch, dass ich einer Frau den Eimer tragen half, bekam ich eine Flasche voll geschenkt, worauf es heute Abend Reibeplätzchen gab.

17. 10. 1944 – Dienstag

In der letzten Nacht lag ich in Angstträumen, die sich bei mir in letzter Zeit öfter wiederholen. Es sind immer qualvolle Luftangriffe, die ich im Traum erlebe, bis dass ich in Schweiss gebadet aufwache. Flammen standen wie Scheinwerfer grellrot am Himmel. Flammen oder Blut, wer kann es unterscheiden.

Als ich dann heute Morgen über die Rheinbrücke fuhr, spannte sich ein doppelter Regenbogen über dem Strom: Zeichen der Versöhnung zwischen Gott und den Menschen. Versöhnung?

Kaum am Bahnhof Sürth angekommen – neun Uhr -, war wieder Grossalarm, und ich erreichte mit Mühe gerade noch den Bunker, als die erste Bombenreihe fiel. Und nun folgten fünfundsechzig furchtbare Minuten, die ich nie vergessen kann. Rasende Bombeneinschläge, nur auf Minuten unterbrochen, schreiende Frauen, jammernde Kinder, das Licht ging aus, wir mussten im Schein einer Kerze sitzen, der unter der Erde liegende Bunker schwankte zentimeterweit auf und nieder -, ich kann es nicht beschreiben, wie sich die Menschen aneinander festkrampften in ihrer Angst, in ihrer grässlichen Angst vor solch einem fürchterlichen Tode.

Die Fabrik ist zerstört, grosse Teile davon waren lichterloh am brennen. Das Verwaltungsgebäude hat vier Volltreffer erhalten. Man geht auf Gängen und Treppen – soweit noch erhalten – auf Schutt, Mörtel, Gerümpel und Glasscherben. Sämtliche Fenster und Türen waren heraus gerissen. Mein Büro war verwüstet. Grosse Löcher klafften in Wänden, Decken und Fussböden: die Bombendurchschläge. Unten im Vorgarten der Verwaltung lagen zwei Tote, die Frau des Gastwirts Simon und ein älterer Mann, ein Dachdecker. Rundum ein grauenhaftes Bild der Zerstörung. Mein Gott, mein Gott, so sehr hast Du uns verlassen!

22. 10. 1944 – Sonntag

Am 18. Oktober wurde der Kern der schönen Musenstadt Bonn zerstört. Ausgebrannte Ruinen grinsen den schaudernden Betrachter an.

In der Nacht vom 17. Zum 18. Oktober ist Herr Espenmüller, erster Direktor meiner Firma in Sürth, am Herzschlag gestorben. Er war aus der Schule des alten Geheimrats Linde hervorgegangen, christlich, kein Nazi, zwar Grosskapitalist, aber streng sachlich und gerecht.

R. I. P

Nachmittags 5 Uhr: Meine Gedanken weilen den ganzen Tag bei Mieke und den Kindern. Mit kranker Sehnsucht male ich mir Heimwehbilder aus.

Draussen ist es herbstlich, bunt sind die Wälder, trübe und dunkel aber ohne Regen der Himmel. Gerade war für etwa eine Stunde grosser Alarm, der erste heute. Es kam aber nichts.

Dieser Oktober ist bisher das furchtbarste, was uns der Krieg brachte. Zwar ist für die hiesige Gegend seit zwei Tagen eine kleine Ruhepause, die aber gewiss nicht lange anhalten wird.

Ich fahre jeden Tag nach Sürth, um kümmerliche Aufräumungsarbeiten vorzunehmen. Man kann die Firma nicht ganz im Stich lassen und muss so tun als ob ......Wahrscheinlich wartet man auf den Beschluss der Generaldirektion, was geschehen soll. Ob wir wohl zu der von uns aufgekauften Firma Schwarz nach Nördlingen kommen? Für mich wäre das günstig, für Beckum und Unkel nicht. –

Man kann schlecht wägen, noch schlechter wagen. Kaum wagen zu hoffen, denn auch in diesen etwas ruhigeren Tagen bin ich verschiedentlich um mein Leben gejagt. Bei einem Luftkampf zwischen deutschen und amerikanischen Jägern habe ich mich auf freiem Feld in einen Heuschober eingewühlt, während vier Deutsche und ein Amerikaner abstürzten.

Nimmt denn dieser Wahnsinn nie ein Ende? Alles seufzt nach Frieden, Frieden um jeden Preis.

Wie furchtbar ist doch dieser Monat Oktober. Wundern muss ich mich, dass er überhaupt noch einmal vorüber gegangen ist, doch fehlen noch zwei Tage daran. Während unsere grossen und kleinen politischen Führer in schlotternder Angst weiter von Kampf und Sieg faseln, schreien Rheinland und Westfalen nach Frieden, so laut, dass die Menschen sich zu geheimen Notorganisationen zusammenfinden und deshalb, wenn man sie entdeckt, aufgehängt werden. In Köln hat man etwa fünfzehn dieser Leute zwei Tage öffentlich hängen lassen. Man denkt an den dreissigjährigen Krieg zurück, in dem solche Justiz üblich war.

Was gibt es in dieser Zeit noch am Schönem, woran man sich erfreuen und etwas aufrichten kann? Die Natur. Ich schilderte schon meinen Gang durch den Frieden des Waldes, als ich vor drei Wochen in Rhöndorf vor Tieffliegern geflüchtet bin. Immer seltener habe ich hierzu Musse; meist bin ich ein in den Städten und Zügen gehetztes Wild. Doch stand ich bei einem Alarm in Sürth, als ich wieder einmal vor Fliegern aus der Umgebung der Firma davongelaufen war, staunend und sah am Himmel einen riesigen Kranichzug vor dem herannahenden Winter langsam und majestätisch dem Süden entgegen ziehen.

Mieke schrieb mir zuletzt am 17.Oktober. Hans und Lambert hatten beide die Steinpocken. Die Masern hat Hans bereits im Herbst 1941 überstanden. Ich denke am heutigen Sonntag, an dem ein Alarm den anderen treibt, wieder viel an meine Lieben, fände ich doch nur bei Mieke mehr Verständnis für mich. Es quält mich der Gedanke, dass ich sie vielleicht nie wiedersehen werde und sie dann nie mein Sinnen und Trachten erkannt hat. Mieke, mögen dann diese Bücher zu Dir sprechen, damit Du dem Toten schenkst, was Du dem Lebenden versagtest: Verständnis und Liebe!

Anmerkung:

Hier enden die Tagebuchaufzeichnungen von Hubert Schuster

Hinweis:
Zur Veröffentlichung auf der Webseite https://garnison-koeln.de/ freigegeben. Weitergabe nicht erlaubt.


Alle Rechte liegen bei Lambert Schuster, Eichendorffstraße 16, 50389 Wesseling.